FAZIT nach Tag 4, der etwas andere Blog,

Blogbeitrag von Roman

Im Hier und Jetzt – das New age Credo der westlichen Welt, um zu Entschleunigen, Herunterzufahren und im wahren Leben anzukommen. Immer on-line, immer busy, immer verplant, immer im Stress und immer der Zeit hinterherhechelnd. Die Zeit, die in unserer Konsumgesellschaft praktisch verloren gegangen ist – oder die wir bewusst oder unbewusst aus unserem Leben verdrängt haben.

Kennst Du das: Du stehst am Bahnhof und wartest auf den Zug, der da wieder mal Verspätung hat? Bleibst du gelassen oder reagierst Du bereits mit leichter bis ausgeprägter Gereiztheit? Und was passiert in Dir, wenn Du im gleichen Moment realisierst, dass deine Handy-Batterie im selben Moment den Geist aufgibt? Jetzt stehst Du da am Bahnsteig und fragst Dich, wie Du ohne Ablenkung, die zäh-fliessenden, schier endlos vorbeistreichenden Minuten überbrücken kannst, denn es fehlt Dir gleichzeitig auch noch was interessantes zum Lesen.

Du guckst Dich um, siehst die anderen Pendler beflissentlich mit ihren Handys beschäftigt, abgelenkt vom Moment – aber dafür gut unterhalten. Vielleicht nervst Du Dich, das Handy nicht rechtzeitig aufgeladen zu haben, oder über die immer häufiger werdenden Verspätungen bei der SBB; vielleicht fühlst Dich aber nur mit der Zeit alleine gelassen und einfach schlecht unterhalten.

Wie erfrischend anders ist das übliche Strassenbild hier in Brasilien, wenn Du spätnachmittags durch die Strassen schlenderst. Dir fällt gleich auf, dass die Strassen richtig belebt sind. Alle Menschen sind in den Strassen anzutreffen: ob jung oder alt, klein oder gross, Frau oder Mann. Neben den öffentlichen Parks, die stets gut besucht sind, setzen sich die Menschen oft einfach auf einen Stuhl direkt vor ihre Haustür und gucken auf die Strasse. That’s it! Keine Zeitung, kein Handy, keine digitale Ablenkung – einfach nur dasitzen und sein: im Hier und Jetzt! Alles analog, alles old-school. Stoisch dasitzend, stundenlang auf die Strasse kontemplierend oder aber in einem Gepräch zwischen Mensch und Mensch vertieft, also in einer urmenschlichen und natürlichen Interaktion, die in unseren Breitengraden leider vom Aussterben bedroht zu sein scheint.

Brasilien: also alles Friede, Freude, Eierkuchen? Könntest Du beinahe geneigt sein zu denken, wären da nicht ebenfalls diese Eindrücke, die dieses friedliche und vor Harmonie strotzende Bild stören: die hohen Mauern, um all die Häuser, vor denen die Menschen friedlich sitzen. Und auf den hohen Mauern Stacheldraht, Elektrozäune, Eisennägel, spitzige Glasscherben und überall Videokameras, welche die Mauern 24h lang nach allen Seiten und aus allen Perspektiven überwachen.

Zumindest ab dem Zeitpunkt, an dem die Sonne untergegangen ist, die Menschen ihre Stühle auf der Strasse verlassen haben und die Strassen einsam und leer zurückbleiben, prägen die Mauern das brasilianische Strassenbild und das Leben im Dunkeln. Wo vorher Freude und fröhliches Zusammensein vorherrschte, bleiben dunkle, unsichere Strassen übrig – und Menschen, die durch hohe Mauern voneinander getrennt sind.

So what – fragst Du dich? Leider habe ich keine simple Antwort für Dich parat, sondern lass vielmehr meinen Eindruck einfach in Dir wirken und entfalten. Vielleicht findest Du Erklärungen für dieses kontrastreiche Bild, welches die brasilianischen Strassen in Tag und Nach, hell und dunkel, Zusammensein und Getrenntheit, Friede und latente Gefahr verwandelt. Vielleicht findest Du Zeit, selbst darüber nachzudenken, wenn Du das nächste Mal auf den verspäteten Zug wartest. Vielleicht magst Du sogar deine Gedanken mit einem anderen Menschen teilen, im digitallosen – Hier und Jetzt.

Post Scriptum: über das geile Kiten, den perversen Prea Wind, die fetten Wellen und den leckeren Fisch, den wir mit Genuss verspeisen und von eiskaltem Caipirinha folgen lassen, wird ab morgen wieder ge-blogged.

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